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Pedestrain Bridge

Der Brückenbauer
Eine Geschichte

In den späten sechziger Jahren des 20ten Jahrhunderts lebte in New York ein sehr angesehener und erfolgreicher Brückenbauer. Er hatte mit seinem tiefen Wissen was Statik und Physik angeht bedeutende Bauwerke und Brücken in allen Teilen New Yorks und auch New Jerseys errichtet und doch fehlte Ihm etwas zu seinem Glück. Er wollte etwas wirklich Bedeutendes errichten, etwas was ihn wirklich überdauern würde. 

Zeit seines Lebens hatte er große Freude daran gehabt Dinge zu berechnen. Mit den Zahlen und seinen Berechnungen hatte er das Gefühl das Leben, ja sogar die Welt kontrollieren zu können. Die Zahlen waren seine Freunde und bedeuten für ihn ein Klarheit, die er auch auf den Baustellen in Form von klaren und knappen Ansagen an seine Mitarbeiter nutzte um seine Ziele zu erreichen. 

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Doch nun war der Tag gekommen an dem er nicht weiterkam. Ein neuer Auftrag forderte ihn voll und ganz heraus und trotz all seiner Ingenieurskunst schaffte er es nicht die Lösung zu erzeugen. Die Brücke die er bauen sollte, so der Auftrag, sollte Sinnbild für Leichtigkeit, Emotion und künstlerische Eleganz werden und zwei Stadtteile miteinander verbinden, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Das eine Viertel Stand für das Historische New York, etwas verblichen im Glanz, doch immer noch war erkennbar wie diese Gegend durch die Fülle des Lebens in den 20er Jahren erbebt sein musste. Hier ist einiges entstanden, was den Lauf der Dinge und die Geschicke der Stadt entscheidend mitgeprägt hatte. 

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Der Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses strotze vor Jugend und Attraktivität. Der starke und vitale Pulsschlag dieses Viertes verwirrte und zog zugleich magisch an. Wie eine leichte Droge wirkte dies und schien einem den Verstand zumindest zeitweilig zu vernebeln. Ein angenehmer und betörender Nebel. 

Diese beiden Viertel – die nicht unterschiedlicher sein konnten – miteinander zu verbinden, war nun seine Aufgabe geworden und nach Wochen verzweifelter Berechnungen, unzähliger Entwürfe, Skizzen und Modellen von Brücken, die er mit großer Sorgfalt und Akribie erstellte, brach er verzweifelt in seinem Büro zusammen. All seine Fähigkeiten schienen nicht ausreichend, eine technische Verbindung der beiden Stadtviertel zu kreieren. 

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Er hatte am Morgen zuvor in der New York Post einen Artikel über eine neuartigen Brücke gelesen, die in der Gegend von San Francisco, erbaut worden war. Sie hatte neue, hochmoderne Materialien verwendet und doch war dies nicht Alles was diese Brücke besonders machte. In dem Artikel stand: "die Brücke habe etwas Magisches an sich und die Statik könne man mit Mathematik nicht erklären". Zunächst hatte unser Freund diesen Artikel und insbesondere dieses letzte Zitat als das aufmerksamkeitserheischende Gekritzel eines Journalisten angesehen, doch nun, wie er so am Boden lag, erinnerte er sich wieder an den Artikel und er entschied sich spontan dazu sich am nächsten Morgen in sein Auto zu setzen um den langen Weg – quer durch die USA – bis zur Westküste anzutreten. 

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Am nächsten Morgen startete er sein prachtvolles Automobil und der starke Motor – ganzer Stolz der amerikanischen Automobilindustrie und der seine Besitzers – erzeugte ein sonores Grundgeräusch, dass dem Brückenbauer ein wohlig-warmes Gefühl im ganzen Körper erzeugte. Hier war er am rechten Platz, hatte alles unter Kontrolle und er freute sich auf die Fahrt. 

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Schon bald hatte er die Stadtgrenze von New York und auch den Staat New Jersey hinter sich gelassen und der Wagen schnurrte wie ein Kätzchen. Es war wie ein Verlassen der Zivilisation und ein in Eintauchen in die Wildnis. Nach drei Tagen war er in einer menschenleeren Gegend angelangt, in der er noch nie zuvor gewesen war. Am nächsten Morgen, er musste im Auto die Nacht verbringen, da es weit und breit keinen Ort, geschweige denn ein Motel gab, wollte er den Wagen starten, doch außer einem kurzen unschön metallisch klingenden Geräusch tat sich nichts mehr. Zumindest bewegte sich der Wagen keinen Zentimeter mehr. Sei heißgeliebtes technisches Wunderwerk musste wohl am Tag zuvor zu heiß geworden sein. Nun stand er dort Mitten im Nirgendwo und wusste nicht weiter. Er versuchte verzweifelt den Motor zu reparieren und wieder in Gang zu bringen, doch ohne Erfolg. Erschwerend kam die immer größer werdende Hitze hinzu und dass er keine Vorräte oder Getränke bei sich hatte. Er setzte sich in den Schatten seines Autos und wartete. Man konnte von ihm sagen was man wollte, doch Geduld hatte ihm bislang zu recht noch niemand als Tugend zugeschrieben. Nach einigen Stunden, er musste in der Zwischenzeit eingeschlafen sein, hörte er aus der Ferne ein Auto näher kommen. Mittlerweile sah er mit seinem offenen Hemd dem verdreckten Anzug und staubigen Gesicht gar nicht mehr nach dem erfolgreichen Ingenieur aus New York aus und er fühlte sich auch nicht mehr so. Er konnte nur hoffen, dass der Fahrer des kommenden Autos Mitleid mit ihm hatte und anhielt um ihn mitzunehmen. Das Auto – ein alter VW Bus kam immer näher – es war von oben bis unten mit Blumen angemalt und unterhalb der Frontscheibe stand in Rot "Love is the answer". Bei dem Besitzer des VW Busses musste es sich wohl um einen dieser Hippies handeln, von denen man in der letzten Zeit so viel hörte und las. "Nun denn, hoffentlich hält er an." dachte der Ingenieur.

Der VW Bus hielt quietschend an und die Bremsen hörten sich so an, als wäre dies das letzte mal, dass Sie sich in die negative Beschleunigung des Gesamtkunstwerks VW Bulli einbringen hätten wollen. Am Steuer saß eine junge Frau mit langen, wilden Haaren, Fransen Lederweste und Kette mit Peace-Zeichen um den Hals. Sie mag nicht älter als 18 Jahre alt sein, dachte der Brückenbauer.

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"Hey, wie geht’s, kann ich Dir helfen?" fragte die junge Frau die, wie sich herausstellte Zoe hieß. "Ja, das wäre sehr nett. Mein Wagen hat eine Panne. Kannst Du mich mit in den nächsten Ort nehmen?". "Klar, wie heißt denn Du?". "Peter Faber". So machten sich Zoe und Peter gemeinsam auf den Weg zum nächsten Ort im Nirgendwo der Weite dieser Landschaft. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus dass Zoe auch auf dem Weg nach San Franzisco war, um dort ein Kunst- und Musikstudium zu beginnen.  

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Zoe war so ganz anders als Peter, sie vertraute sich dem Fluss des Lebens an und Berechnungen waren für sie eine fremde Welt. Während Peter den Ball Flug und die Parabel die er im Flug beschrieb berechnete, fing Zoe den Ball einfach auf und lachte aus purer Freude am Spiel. Eines Tages machten Sie Pause in einem kleinen Ort und Zoe ging, um ein sich die Füße zu vertreten durch den Ort, um dann freihändig fahrradfahrend und mit offenen Armen, das Leben begrüßend zurückzukommen.  

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Welche Berechnungen stellte Peter direkt alles an. Geschwindigkeit, Gleichgewicht, Stabilität, Erdanziehung, Vektoren…., doch plötzlich erkannte er, dass die wahre Kraft die Zoe auf dem Fahrrad freudestrahlend fahren ließ, ihr Grundvertrauen war, das Vertrauen mit allem was kommt klar zu kommen, Vertrauen in Ihr eigenes Können und auf das was Sie in Ihrem Leben bislang schon alles gelernt hatte und darauf dass Sie sich dem Fluss des Lebens hingeben darf. Der Gewinn ist pure Lebensfreude. Das wurde Peter in diesem Moment sofort klar. "Und jetzt Du" sagte Zoe, die mitbekam, dass Peter in Gedanken war. "Was ich?", "Klar, nur vom Zuschauen lernt man das freihändig Fahrradfahren doch nicht. Du kannst doch Fahrradfahren oder?" "Ja, das kann ich, doch freihändig habe ich das noch nie gemacht". "Denk einfach daran" gab Zoe Peter mit auf den Weg zu seiner ersten freihand-Fahrradakrobatik "Wo Kontrolle anfängt, hört Vertrauen auf! Also lass los und Du wirst die Leichtigkeit und Selbstsicherheit spüren die Dich trägt". 

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Nach ein paar Metern mit dem Fahrrad ließ Peter vorsichtig die Hände vom Lenker, doch durch seine angespannte Körperhaltung, verlor er das Gleichgewicht und fiel fast längs hin. Im letzten Moment konnte er sich mit dem rechten Bein abstützen. Zoe kam zu ihm und schaute ihm in tief in die Augen "Hier kommst Du mit Deinen Berechnungen nicht weiter, Peter. Schließe die Augen und stelle Dir vor wie es sich anfühlt, wenn Du freihändig auf dem Fahrrad fährst, mit weit ausgebreiteten Armen, das Leben begrüßend. Was siehst Du dann? Was hörst Du dann? Was spürst Du dann? Was riechst Du dann? und ganz vielleicht schmeckst Du auch etwas in Deinem Mund, aber ganz sicher ist da dieses unbeschreibliche Gefühl". 

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Das war etwas, was Peter noch nie gemacht hatte und er konnte dieses ganz besondere Gefühl sogar wahrnehmen. Mit einem Lächeln öffnete er die Augen und es fühlte sich an als würde er fliegen, so wie er freihändig die Straße entlang radelte. 

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"Zoe, Du bist so anders, woher kommt das?" fragte Peter Zoe am selben Abend. "Ich kann es Dir nicht einmal sagen" antwortete Zoe "ich habe mich einfach irgendwann dazu entschieden. Es heißt immer dass man sich Vertrauen verdienen muss. Nein, das glaube ich nicht. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen, da meine Eltern nicht in der Lage waren sich um sich selbst zu kümmern, konnten Sie dies nicht auch noch für mich tun. Da war es das Beste was Sie tun konnten, mich im Waisenhaus abzugeben. Dort habe ich zunächst dadurch versucht zu überleben, dass ich mir Aufmerksamkeit und Liebe verdiene, doch das klappte nicht und war ungeheuer anstrengend. Irgendwann hat es dann Klick gemacht und ich habe mich dazu entschieden, Vertrauen und Liebe zu verschenken, denn Wenn Du Liebe willst in der Welt dann liebe. Wenn ich es zurückblickend bewerte, war es ein Akt der Liebe meiner Eltern mich dort abzugeben. Sie wollten das Beste für mich und haben mir zugetraut, dass ich diesen Weg gehen kann. Dass ich es schaffe. Diese Perspektive hilft mir für mein Leben deutlich mehr, als alle anderen möglichen Standpunkt, da diese mich mit Dankbarkeit und im Frieden auf meine Eltern zurückblicken lässt. Meine Eltern sind ja schließlich mein Ursprung".

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Am nächsten Tag kamen Sie in den Yosemite Nationalpark wo Sie unter den großen Mammutbäumen in der Mittagssonne rasteten. Sie waren beide sehr beeindruckt von diesen Baumriesen und während Peter überlegte, welche Kräfte die Statik der Bäume bei Stürmen trotzen musste, war Zoe begeistert von dem Willen der Bäume der Sonne so nah zu sein, dass Sie größer wurden als alle anderen Pflanzen auf diesem Planeten. Doch als ein Same von oben herab fiel, direkt auf dem Boden neben sie, da wurde Ihnen klar, dass nur aus dem weichen das Starke erwachsen kann. "Zoe, ich bin Dir sehr dankbar für die Zeit mit Dir, doch ich will zurück, ich habe meine Lektion gelernt. Es ist nicht mehr notwendig für mich die Brücke in San Francisco anzusehen. Ich will meine eigene Brücke bauen und nachhaltige Verbindungen herstellen, basierend auf Vertrauen, Zutrauen, Ermächtigung und Liebe." "Ich danke Dir Peter und hoffe wir sehen uns irgendwann wieder" erwiderte Zoe und mit einer abschließenden Umarmung verabschiedeten sich die beiden voneinander. 

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Peter ging zurück nach New York, sein Führungsstil änderte sich komplett. Dort wo er zuvor kontrollierte erzeugte nun sein Vertrauen in seine Kollegen ein befruchtendes Umfeld, so dass jeder aus seinem Team gerne Verantwortung übernahm und Lösungen erzeugt wurden, wo Peter zuvor alleine nicht weiter gekommen war. 

Als die Brücke zwischen den Stadtteilen eröffnete wurde und plötzlich miteinander direkt verband, staunte die Welt über dieses Kunstwerk. Die Leichtigkeit und Lebensfreude strahlte aus jedem Element, die verspielten Verzierungen wirken organisch und in der Mitte der Brücke war ein Schild mit sonnengelben Lettern angebracht auf dem Stand: 

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"Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung


Es ist was es ist
sagt die Liebe"

Erich Fried

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